Es ist die Zeit nach dem Krieg. Freizeitangebote gibt es kaum auf dem Hümmling und so ist der Tunscherenabend eine willkommene Abwechslung. Schon rechtzeitig wird in den Familien mit der Fertigung der kunstvollen Gebilde begonnen und die Kinder und Jugendlichen überlegen intensiv, wie es zu schaffen ist, bei den Nachbarn und Verwandten unerkannt zu entkommen.

Mit großer Spannung sieht auch die Familie Schulten dem Tunscherenabend entgegen. Gut, dass in ihrem großen Garten einige Weidenbäume stehen, von denen der Vater rechtzeitig eine große Anzahl Ruten ins Haus holt. Zu seiner Frau sagt er: „Kiek is, wo fein se sück bögen laatet“. Seine Frau freut sich mit ihm, ist aber in Gedanken schon mit der erforderlichen Anzahl beschäftigt. Sie fragt ihren Mann: „Off wi wall an eenen Aobend negen ferdig krieget?“. „Negen seggst du? Hav wi ans nich immer achte moket?“ Und dann fällt ihm auch schon ein, warum es in diesem Jahre neun sein müssen: „Ik hab nich an de Flüchtlinge dacht, de bie Hinnerk siene boven up waohnt. Klaor, dat se eene krieget; se habt et ampaat leep genoug. Hoff un Hus habt se verloren un ehre beiden lüttken Kinner laatet, äs wenn de Brotkorf alltiet heller hoch hangt. Wat menst du, wenn wi anner Weeke use Swien slachtet, schullen wi ehr dann nich ‘n fein Stück Braan toukomen laaten?“ Mutter Schulten nickt und sagt: „Dat is ‘ne goude Idee; man touers krieget se ‘ne Tunschere. Willt hopen, dat se ehr veele Glück bringt“.

Ein paar Abende später. Die Familie Schulten ist vollzählig um den großen Küchentisch versammelt, auf dem das Zubehör für die Tunscheren bereit liegt. Mutter Schulten und ihre Töchter schneiden das Seidenpapier in Bahnen, fertigen daraus Girlandenstreifen, wenden sie vorsichtig und pusten sie durch, damit sie schön bauschig werden. Das Bewickeln der Bögen nimmt traditionell der Hausherr persönlich vor, weil er hierfür die geschickteste Hand hat. Die mit Weihnachtspapier umwickelten Holzbrettchen hält Sohn Heinrich bereit, der sich auffällig still verhält. Sein Vater schaut ihn von der Seite an und meint amüsiert: „Scholl di diene Marie van Aobend weer dör de Latten gahn?“ Heinrich kontert etwas verlegen: „Erstens is et noch nich miene Marie un tweidens hab ik ‘n Plan utklamüsert, dat wi ehr ditmal toupacken krieget. Uk use Mama mout mit up ‘Luur’ stahn“. Als am späten Silvesterabend bis auf Marie alle ihre Tunschere gebracht haben, verlässt Heinrich kurz seinen Posten und ermahnt seine Geschwister und seine Mutter zum Durchhalten.

„Ditmal will wi ‘t ehr wiesen“, sagt er energisch und bereits auf dem Weg zurück zu seiner Stellung im Flur ist auch schon ein kräftiger Ruf „Tunschere“ zu hören. Alle stürzen aus ihren Verstecken nach draußen und bleiben nach einer Weile wie angewurzelt stehen, als sie niemanden weglaufen sehen und auch keine Schritte hören. Hat sich Marie in Luft aufgelöst? Schultens’ sind sehr enttäuscht und Heinrich sagt traurig: „Ik kann ‘t nich glöven, man Marie is weer wegkomen“. In dem Augenblick ist ein verhaltenes Husten aus einem der Kellerlöcher zu hören und alle sehen zu ihrem Erstaunen, dass Marie sich gerade aus ihrer unbequemen Lage befreien will. Heinrich eilt auf sie zu und führt sie glücklich in die Küche, wo am warmen Herd Tee und Neujahrskuchen bereit stehen. Zum Vater sagt er stolz: „Nu is mien Plan dach noch upgahn“ und dabei wirft er Marie einen liebevollen Blick zu.

Auch heute noch werden am Silvesterabend oder am Vorabend des Festes Heilige Dreikönige Tunscheren ausgetragen. Woher die Bezeichnung kommt, darüber sind sich die Heimatforscher nicht ganz einig. Einig sind sie sich aber in dem Punkt, dass die Tunschere als Glückssymbol für das neue Jahr gilt. Sie wird zu Nachbarn, Verwandten und Freunden getragen. Entweder stellt man sie vor die Tür oder vors Fenster, ruft „Tunschere“ und versucht, möglichst unerkannt zu entkommen. Gelingt dies nicht, wird der Überbringer oder die Überbringerin ins Haus gebeten, wo er oder sie mit Tee, Glühwein und Gebäck bewirtet werden. Die Tunschere mit Papierschmuck hat als Grundlage ein mit Weihnachtspapier umwickeltes Brettchen, in das normalerweise sieben kleine Löcher gebohrt werden. Drei gut biegsame Weidenruten werden mit selbst gebastelten kleinen Girlanden umwickelt und in die dafür vorgesehenen Löcher gesteckt. Eine Weihnachtskrippe aus Papier oder eine Weihnachtskarte sowie weiterer Weihnachtsschmuck ziert das Innere. Überwiegend kommt noch eine Weihnachtskugel hinzu. Ein Tannenzweig mit Engelhaar am Kopfende der Tunschere gibt dem Gebilde noch einen zusätzlichen Glanz. Mancherorts ist es auch üblich, Süßigkeiten in die Tunscheren zu stellen. Die so genannte Krüllentunschere hat ein völlig anderes Aussehen. Das Material besteht aus Holz, entweder sind es Holunderzweige oder Weidenbaumruten. Mit dem Schabmesser werden entweder Holzlocken (Krüllen) erzeugt oder gekräuselte Fäden gezogen. Häufig ist es so, dass diese Kunst vom Vater an den Sohn weitergegeben wird und somit auch diese Art von Tunscheren auch heute noch auf dem Hümmling anzutreffen sind.

 

Text: Thekla Brinker, Fotos: Alfons Deters
Artikel aus Magazin 2009/4